abstracts+biobibs
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Michael Härdi
abstract:
Und wieder mal Ragga - einige Gedanken zur Rolle und
Tätigkeit des Dj
Als Beispiel für einen "Prosumer" wird die Tätigkeit des Dj anhand einiger Fallbeispiele diskutiert.
"Djs sterben früh", sagt Norbert - "einer stürzte an einem
Sonntag mit seinem Skateboard und erlitt so schwere innere
Verletzungen, dass er daran gestorben ist." "Aber sein Tod hatte
doch nichts mit seiner Tätigkeit als Dj zu tun?" wende ich ein.
"Doch, doch, stell dir vor, stundenlang diesen harten Beats ausgesetzt
zu sein, das geht doch an die Substanz. Und da ist der Sturz
vom Brett nur noch ein Tropfen auf einen Stein, der in seinem
Innersten schon zerbrochen ist."
Der Reihe nach, schlage ich vor, doch nicht zu einfach: Für was
die Abkürzung steht, ist allen klar - der Disk Jockey. Der
Umstand, dass der Begriff in Englisch erscheint, unterstreicht die
kulturelle Dominanz der englischen Sprache in diesem Bereich.
Entsprechend zum Begriff "Rock 'n Roll" lohnt sich der Versuch
einer Übersetzung ins Deutsche (oder in eine andere Sprache)
nicht wirklich, ausser es soll bewusst das Lachen angeregt werden.
Platten Spieler wäre es wortwörtlich, doch dieses Gerät heisst
auf Englisch turntable, also Drehtisch. Die Übersetzung wirkt
in einer Weise "platt", während dem gegenüber die englische
Ausdrucksweise einen Code in sich birgt, der irgendwie als
"modisch" empfunden wird. Genau mit einer solchen Logik des
Codes als Verführung kann auch die Abkürzung des Worts - aus
Disk Jokey wird Dj - erklärt werden. Wiederum ganz einfach
bezeichnet: Es geht um eine männliche Person, die mit einem
technischen Gerät herumspielt. Das Gerät ist nur ein Teil der
erforderlichen Gegenstände: Es braucht noch die Platten - wenn
möglich nicht nur eine, sondern mehrere, verschiedene.
Der Dj wird sich, wenn er etwas auf sich hält, einen
Künstlernamen zulegen, beispielsweise 'Soulinus'. Er ist dann
Martin Müller aka Dj Soulinus. Ist der Dj eine Frau, so hat sich
das Problem der rein männlichen Form des Begriffs in den letzten
zehn Jahren so geregelt, dass sie sich "DJane" oder aber
"she-Dj" nennen kann. Gehen wir von der Situation aus, in der
mit Platten rumgespielt wird, so ist klar: Der Dj ist nicht allein,
wenn alles gut läuft, hat er ein Publikum und dieses will tanzen zu
den Platten, die er auflegt. Bleiben wir bei diesem technisch
bereits etwas antiquierten Bild des Platten-Auflegens, so sehen
wir, dass die Kunst, das Handwerk des Dj's nicht in der
Neuerschaffung der Musik liegt, sondern in der Abfolge, der
Kombination, die er oder sie erklingen lässt. Es geht um eine
Reproduktion, die jedoch etwas 'Eigenes' darstellen soll. Dann
werden wir im Nachhinein sagen: "Der Abend war gut, der Dj hat
es geschafft, ein unverwechselbares Ambiente hervorzubringen,
welches uns immer wieder mitgerissen hat".
Zur sozialen Situation des Dj und der Frage, was ihn zum Dj
macht: Sicher kann ich auch bei mir zuhause Platten auflegen
und dazu tanzen - allein. Aber ich gelte dann noch nicht als Dj;
allenfalls kann dies eine Vorstufe darstellen und sicher wird das
"sich alleine Platten anhören" einen Teil der Tätigkeit eines Djs
ausmachen - die Vorbereitungsphase. Zudem sollte sich der Dj
auf eine bestimmte Musikstilrichtung eingrenzen - auch wenn
dies nicht eine zwingende Bedingung darstellt.Wo finden wir die
Djs? Wir werden in eine Diskothek gehen oder in einen Club. Ich
selbst gehe in meiner Heimatstadt meistens in das selbe Lokal
und werde in der Folge einige Aspekte davon beschreiben.
Gleichzeitig möchte ich mir Gedanken machen, was mich dazu
motiviert, immer wieder dahin zu gehen. Ein Grund ist sicher der
soziale Kontakt: Ich möchte Freundinnen und Freunde treffen
und mich mit ihnen unterhalten.Wenn ich mehr auf ein Gespräch
aus bin, werde ich mich wahrscheinlich nicht auf der Tanzfläche
aufhalten sondern eher am Rande oder oben bei der Bar. Ich
nehme in dieser Situation den Dj gar nicht bewusst wahr, ausser
wenn die Musik zu laut ist, und ich mich nicht oder kaum mehr
unterhalten kann. Allerdings würde dabei das Fehlen von Musik
auch auffallen, es würde der Eindruck entstehen, dass das Lokal
bald schliesst. Wenn ich tanzen möchte, ist dabei entscheidend,
welcher Art die Musik ist und ob sie mir gefällt. Die Qualität des
Djs ist daher immer auch eine Geschmackssache und eine Frage
der Einstellung und Kennerschaft der Konsumenten.
"Fallstudie 1" - die HipHop-Veranstaltung:
Bevor du den Dj siehst, musst du zahlen - eine meistens unumgängliche
Regelung. Um sie zu umgehen, beschliesse ich, erst um
morgens nach zwei dahin zu gehen, in der Hoffnung, die Kasse
und die Türsteher wären dann nicht mehr da. Doch leider weit
gefehlt: Das Lokal ist voll, und die Kasse noch da. Es hat keinen
Sinn, auf die kommerzielle Ausbeutung von Jugendlichen hinzuweisen
in dieser Situation. Doch was tun? HipHop ist eine
Macho-Kultur, denke ich mir, und versuche diesen Weg. Ich sage
zum Türsteher: "Los komm raus auf die Strasse, ich fordere dich
zum Duell - sollte ich gewinnen, musst du mich umsonst reinlassen".
HipHop ist glücklicherweise nicht nur Macho, sondern versteht
manchmal auch etwas Humor - der Türsteher lacht und
lässt mich rein. Sehr gut so, danke. Der Dj ist in voller Fahrt: Er
"scracht" mit zwei Platten auf den Plattenspielern vor sich. Das
heisst, er lässt die eine Platte als Hintergrund laufen und mischt
immer wieder einzelne Umdrehungen der zweiten Platte in den
Sound rein, indem er sie mit der Hand hin und her bewegt (eben
die Technik, die "scrachen" genannt wird). Dazwischen nimmt er
das Mikrophon und schreit Phrasen rein wie "Jo, jo Babe, when I
got u in the morning sun". Die Leute sind begeistert; gelegentlich
hüpft einer auf die Bühne, der Dj gibt ihm das Mikrophon und er
singt ein paar Strophen rein. Allerdings scheint es ein verschworener
Zirkel zu sein, der da mitmacht. Aber jeder von ihnen wird
für ein paar Minuten zum Star des Abends und die Leute applaudieren,
wenn es ihm gut gelingt. HipHop singen bedeutet, sehr
schnell zu sprechen bei einer vergleichsweise minimalen
Melodie. Es gibt sogar Wettbewerbe, wo ermittelt wird, wer am
schnellsten "rappen" kann. Carlito, ein Spanier, der als sein
Hobby "Vodka trinken" nennt, kann auch dann noch rappen,
wenn er sonst keinen vernünftigen Satz mehr über die Lippen
bringt. Aber es geht im HipHop nicht um vernünftige Aussagen -
der Rythmus ist viel wichtiger und die meisten im Publikum sprechen
sowieso kein Spanisch. Frenetischer Beifall ist ihm sicher
und er nutzt die Gelegenheit, auf seine neue CD aufmerksam zu
machen. Durchtriebener Kerl, denke ich, er weiss, wie er bei den
Leuten ankommt und hat viel Erfahrung damit.
"Fallstudie 2" - der thematische Musikabend:
Es ist "Depeche Mode Sound" und Wave angesagt. Ich gehe
schon vor Mitternacht dahin, weil ich diese Soundrichtung gut
kenne und mag. Der Eintrittspreis ist einigermassen moderat und
ich zahle. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewohnt
haben, sehe ich, dass es kaum zwanzig Leute hat. Eine Freundin
aus dem Sportclub, die schon angekündigt hatte, dahin zu gehen,
ist da - immerhin bin ich nicht ganz alleine. Der Dj befindet sich
dieses Mal nicht auf der Bühne, sondern an dem im Lokal eigentlich
für ihn vorgesehenen Platz hinter dem Publikum. Bald
bemerken wir, dass er Mühe hat, die Übergänge zwischen den
Stücken nahtlos hinzukriegen. Die Nadel des Plattenspielers
rauscht durch die Leer-Rillen, während er noch in seinen Platten
rumsucht. Immer wieder kehrt Stille ein, welche die Stimmung
zum Nullpunkt sinken lässt. Zudem hält er sich nicht an den Stil,
mischt Funk-Stücke mit rein, die überhaupt nichts mit Wave oder
Depeche Mode gemeinsam haben. Ich fühle mich nicht "angetrieben"
vom Sound - stehe immer wieder etwas ratlos auf der
Tanzfläche. Irgendwann gehe ich zur Bar rauf und tanze nicht
mehr.
"Fallstudie 3" - Ragga Muffin und Reggae:
Der Unterschied zwischen Ragga und Reggae liegt in der Art des
Gesangs. Während Reggae sich meistens im Stil an den
"Grossmeister" (Bob Marley) hält, ist im Ragga der Gesang rhythmischer
und erinnert teilweise an HipHop. Der Abend ist zu
Beginn eher ein Konzert als eine Tanzveranstaltung. Ein
Reggae-Star aus London mit seinem Dj ist zu Besuch bzw. auf
Tournee. Der Dj ist ein "Red-Skin" mit Arbeitermütze, der
Sänger ein gut gekleideter Gentleman mit afrikanischen
Wurzeln. Zunächst macht nur der Dj die Show, legt Stücke auf
und inszeniert zwischendurch kleine Sprechgesangs-Einheiten.
Nach rund einer halben Stunde kommt der Star: Die Sounds, zu
denen er singt, sind von seiner eigenen Band, die aus
Kostengründen jedoch nicht mit auf der Tournee ist. Der Sänger
hat Klasse, wird von seinem Kollegen am Plattenteller in der
Moderation unterstützt. Die Leute tanzen eigentlich gar nicht,
sondern schauen wie gebannt zu. Irgendwann kommt das bei solchen
Events fast obligatorische "legalize it" - der Sänger versucht
mit dem Publikum in Kontakt zu treten, welches dann auch
schön brav mitsingt. Nach einer guten Stunde tritt der Sänger ab,
der Dj bleibt bis am Ende der Veranstaltung. Ich bekomme das
Gefühl, dass der Dj der Supporter ist, der Sänger der eigentliche
Star. Und doch wäre der Sänger allein nichts ohne seinen Dj. Der
Dj ist zudem die kostengünstigere Alternative zur Band.
"Fallstudie 4" - Progressive House:
Im Programmheft des Lokals ist ein Star-Dj aus Berlin angekündet.
Der Mann brüstet sich damit, in seiner jüngsten
Sample-Produktion über 200 Copyright-Verletzungen begangen
zu haben. Erwartungsgemäss hat es an einem solchen Abend
viele Leute und die Türsteher stehen lange da. Ich gehe so um
halb drei dahin. Ich schaffe es, mich im Gedränge hineinzumogeln.
Der Türsteher sieht es zwar, drückt aber wieder einmal ein
Auge zu. Ich habe Glück und der Star des Abends ist immer noch
an der Arbeit. Er hat sich auf der Bühne aufgebaut und macht
mit einer elektronischen Maschine Töne zum laufenden Sound -
"Live-Act" wird das in der Szene genannt. Der Grundtakt ist
stampfend wie die Maschinen in einer Fabrikhalle. Die Leute
wirken alle glücklich und sind gleichzeitg weit entfernt. Eine solche
Veranstaltung ist die ideale Kompensation von Arbeit und
Produktion, das Heraustreten aus dem Alltag - hinein ins dröhnende
Wubbern. Ich tanze eine gute Stunde, ohne dass sich der
Rythmus grundsätzlich ändert. Das düstere Licht und die
Lautstärke lassen mich vergessen und ich produziere eine eigene
Rolle, die des Tänzers. Die Tänzerinnen und Tänzer nehmen sich
zwar wahr, sind aber mehrheitlich auf ihre eigenen, besonderen
Tanzschritte konzentriert. Ich kann gut verstehen, dass gerade in
der "Techno-House-Szene" viele Leute nur für's Wochenende
leben, gerade weil sie sich hier ganz individuell entfalten und präsentieren
können.
Das Gemeinsame am Arbeitsumfeld der Djs ist die
Freizeitgesellschaft. Die meisten Djs üben die Tätigkeit nebenberuflich
aus. Sie arbeiten an Orten, wo andere Menschen sich
erholen und Abstand von ihrem Alltag gewinnen wollen. Und oft
suchen die Djs in ihrer Arbeit ebenfalls Erholung. Um schliesslich
einen kleinen theoretischen Exkurs zu wagen, ein Zitat von
Jean Baudrillard1: "Das Kapital beutet die Arbeiter zu Tode aus?
Paradoxerweise ist das Schlimmste, was es ihnen antut, ihnen den
Tod zu verweigern. Indem es ihren Tod aufschiebt, macht es sie
zu Sklaven und liefert sie der endlosen Schändlichkeit eines
Lebens in Arbeit aus."
Der am Anfang beschriebene Tod des Djs in der Freizeit, oder
noch besser bei seiner Arbeit selbst, wäre aus dieser Perspektive
ein ideales Ableben in Freiheit. Ein Erlangen des Todes, der bei
der Lohnarbeit nicht eintreffen darf. Oder dient die Freizeit gar
dazu, den Tod zu suchen?
Der Dj hat nicht zuletzt eine wichtige symbolische Funktion,
indem er den Konsumenten seiner Arbeit dabei hilft, ihre Arbeit
zu vergessen. Djs und Djanes, wie in einem Rollenspiel treten sie
auf als Kenner ihrer jeweiligen Szene. Sie helfen dem Publikum,
seine Rolle zu finden - eine Identität zu erlangen, welche in der
oftmals gleichgeschalteten Arbeitswelt vermisst wird.
Literatur
1. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin
2005. Original Paris, 1976, Seite 70.
bio:
Michael Härdi
hardi-at-imagedesign.ch
Geboren 14.5.1971 in Schaffhausen (Schweiz). Schulen in Schaffhausen und Zürich.
1991-1995 Studium an der Grafikfachklasse der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich.
1994 dreimonatiges Praktikum am Atelier National de Création Typographique ANCT in Paris.
1996 Diplôme de langue, Alliance Française.
1997-2000 Nachdiplomstudium am Studienbereich Theorie der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich.
2000 Abschluss als Gestalter FH.
Ich bin seit 1997 als selbständiger Gestalter für Print und Internet tätig. Dabei arbeite ich häufig für Kunden im Bereich der Kultur oder der kulturellen Vermittlung. Ich sehe die Beschäftigung mit medientheoretischen Themen als eine wichtige Ergänzung meiner Arbeit als Gestalter und Programmierer. Sie ist motiviert durch mein Interesse, den kulturellen Kontext, in dem ich tätig bin, verstehen zu wollen.
Die Internetseite www.imagedesign.ch dokumentiert meine Arbeit als Gestalter.
linx:
www.imagedesign.ch
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