interfiction IX
arteFaction!
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19. Kasseler
Dokumentarfilm- &
Videofest


journal - freitag 15.11.02  _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _


Verena Kuni
Ulf Schleth
Marlena Corcoran
Sebastian Oschatz


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Verena Kuni

Arte vs. Factum ?

Zur Einführung erfolgte von der Moderatorin der als workshop deklarierten Veranstaltungsreihe ein 40min. Vortrag über die Herkunft des diesjährigen Themas "Artefaction" - mit der Bezüglichkeit des "faction" auf die Handlungsfähigkeit von Artefakten im interfictionalen Raum - sowie eine Reihe von Fragestellungen und Beispiele für die möglichen connexe und Spezifika der lexikalischen Wortdefinitionen von Artefakten in ihrem kunsthistorischen Bedeutungsrahmen.

Für die diesjährige Thematik "Artefaction" galt als Aufhänger ein Zitat von Ulf Schleth: "Ein interessanter Nebeneffekt ist, dass das Internet und insbesondere auch streaming media die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Artefakte einander näherbringen. Die durch Kompression entstehenden Bildstörungen, die ebenfalls Artefakte genannt werden, geraten zunehmend in herkömmlich streamende Medien, Aufzeichnungen von Bombardementes in Artefakteghanistan usw. usw. und Printmedien, eben im Abdruck von jpegs und beeinflussen das ästhetische Empfinden."

Wo es beim Artefakt ehedem um die handwerkliche Herstellung in Verquickung mit seinen Funktionen ging, löste sich dieser Blick von den Aspekten seiner Manualität und bezog sich eher auf Erscheinungen der Fehlerproduktionen neuer Medientechnologien. Gerade im ästhetischen Genre wurden diese Artefakte teilweise selbst zu Medien, zb. wenn sie ins Betriebssystem Kunst eingesetzt wurden.

Die "technologischen Misfits" bergen ihr eigenes Potential und wirken längst stilbildend, haben längst ihren Raum in der Populärkultur gefunden, ob in der Tapete bei IKEA oder in den Videotracks bei MTV. Eigentlich also absurd noch danach zu fragen, ob dieses artefaktische Moment die Wahrnehmung verändert. Denn es lässt sich über Geschmäcker sicherlich immer noch streiten und das ästhetische Differenz erzeugende Moment von Artefakten setzt sich nur kurze Zeit über den "erfolgreich etablierten Codex normativer Regulationen", also über Normativität hinweg, um sich bald im Design niederzuschlagen (zumindest wenn die Definitionen des Artefaktiösen nicht system-kritisch oder politisch motiviert sind).

Im Zeitalter digitaler Perfektionierung werden Fehlleistungen generiert und Fehlfunktionen installiert, aber ein "wichtiges Korrektiv" kommt ihnen nur dann zu, wenn es sich aus dem eigenen Kontext hinausbewegt und sich über seine ästhetische Vereinnahmung hinwegsetzt, durch die Voraussetzung einer anderen Perspektive in einer anderen Dimension ?

Almut Jürries


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Ulf Schleth

Realität als Reduktion von Artefakten:

Einige historische Beispiele von artefaktischer Erscheinung herausgreifend und die Differenzen der 4 Begriffsdefinitionen divers verbindend, begibt sich Schleth auf den Weg einer quellenlosen, foucaultschen Endlosschleife, deren Motivation in einer religiösen Suche nach Spiritualität in den Medien liegt.

Der Mensch als Artefakt-Produzent und die Wahrnehmung als Artefaktmaschine und das religiöse wie technische Artefakt als einzige Motivationsquelle für Innovation und Reflexion (Bsp.: Mc Luhans "Flug-zum-Mond"-Hypothese als Entstehung eines "gewaltigen reflexiven Resonanzraumes im luftleeren Raum").

In den Sozialwissenschaften wird das Artefakt für "interpolative Verfahren zur Rekonstruktion von Bedeutung und Sinngenerierung im sozialen System" genutzt und somit zu einer Art Zeitmaschine, die zukunftsdeutend und geschichtsschreibend wirkt.

Als Prothesengott, also einem Gott über seine Prothesen, amputiert sich der Mensch sein eigenes Bewusstsein und verfällt immer hypostatischer dem Wunsch, sich mit der Schaffung von weiteren Prothesen über die des anderen hinwegsetzen zu können. "Jede/r arbeitet an der Abgrenzung und gleichzeitig alle zusammen an der Auflösung des Individuums."

Das Auftauchen eines (technischen) Artefakt bedeutet jedoch gleichzeitig das Zurückgeworfen sein auf Realität, durch das verdoppelte Projiziertsein in der Simulation und dem Bruch seiner artefaktischen Begebenheit (als Beispiel für das bewusste Gesetztsein eines solchen Artefact sei hier das landsflair, das abgestufte Weiss in einem Computerspiel genannt, das Göttlichkeit und Unerklärlichkeit und gleichzeitig dessen Realitätsgehalt vermitteln möchte). Bedeutet man das Artefakt als Sinnstiftende Suche nach Göttlichkeit, entsteht ein Double Bind: Inwiefern kann etwas göttlich sein, dass von Menschenhand geschaffen ist ? Oder, wenn es nicht von Menschenhand geschaffen ist, sondern von Gott, inwiefern kann der Mensch dann daran teilhaben und sich selbst zum Gott erklären ?

Würde dann vor dem Computer zu sitzen einen Versuch heissen, durch das Medium Gott näher zu kommen oder Gott selbst zu werden ? Die menschliche Begrenzheit wird immer versucht zu durchbrechen durch die Schaffung von Prothesen, die immer nur wieder verdeutlichen können, dass es sich nur um ein menschliches Produkt und damit um menschliche Erweiterungen handeln kann.

Almut Jürries


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Marlena Corcoran

"Wir sind alle unschuldige Täter"

Ihr Vortrag bestand aus zwei Teilen:

1. Video: "agnus dei" (Opferlamm Gottes)
2. Vom Scheitern der Übertragung per Internet (Fehlschläge als Themen und Technik werden für Zufall und Prozess in der Gegenwartskunst verwendet)

Lamm Gottes / Opfertum

Bei der Vorstellung des Videos stellte sich Marlena Corcoran selbst als Artafekt dar, das die subjektiven Unvereinbarkeiten der Ereignisse des 11.9. (in der asymmetrischen Disparität zwischen Klang- und Bildspur) in sich birgt. Sie ist das westliche Opferlamm, sie muss die Sünden, wie die Ich-Erzählerin der Tonspur von der Waschmaschine berichete, mit sich wegspülen. Die Waschmaschine als Parabel einer Erkenntnismöglichkeit von der Konsistenz kognitiver Ereignisse ?

Dabei zieht sich die Erzählerin-Figur aus der gesellschaftlichen Politizität heraus, begibt sich aber an einen individualisierten Erkenntnisort zurück und nähert sich der Politizität des Themas nur durch die eigene opferiale Entgangshaltung der Disparabilität von kla(n)g und bild(niss).

Fehlschläge in Performances

Vorstellen vergangener Arbeiten, die sich um die (nicht-)intentionale Setzung von Artefakten in künstlerischen Arbeiten und dem Connex zwischen Technischem und Gefühlsausdruck bemüht.

Worin liegt denn eigentlich die Dramatik von Fehlschlägen begründet ? Möglicherweise darin, nicht dem konventionellen Bild entsprechen zu können und damit in der Infragestellung der Finanzierungsquelle ?

"Aus Zeitgründen werde ich nicht die Geburt des Christkindes erläutern..."

Halbfinktionierte Diskussion:

Baldoni: Handelt es sich bei dem Video nicht um ein reproduzistisches Durchkauen veralteter traditionalistischer Vorstellungen von dem, was Kunst und was KünstlerInnen sind ? Aus den Aktionen und Handlungen sollen die Emotionen herauszuhören sein, um eine der politischen Situation entfernte Position einnehmen zu können und dem "reinen" Gefühl mehr Raum zu lassen. Doch die Darstellung von reinem Gefühl, also den angeblich ästhetischen Momenten, kann immmer nur die Faktizität des Gefühlten bestätigen. Auch das sich Wiedererkennen des Gefühlsausdrucks in dem auditiv vermittelten Anschlag der Tastatur ist eher langweilig, weil es durch die Anpassung an die Zuhörer nur zur show massenmedialer Ereignisse wird.

Frauschaft: Reproduktives Heraufbeschwören der ganzen alten christlich-mythischen Symbolen, vom Opferlamm, der Hölle bis zur Schicksalshaftigkeit des Menschen. Das, was in dem Bild passiert, ist eine Form dafür, genau diese nicht vorhandene Historizität zu sublimieren. (Ist die Historizität vielleicht doch da, nur nicht bewusst und nicht im Bild vorhanden ?) Wer ist das Opfer ?

Schwarz: "Das Video holpert für eine Glattheit zu sehr, aber sehr kunstvoll."

Fucold: Ja stimmt, im reinen Kontext der subjektivierten Kunst.

Bert: Für viele, über deren Köpfe hinweg Politik gemacht wird, ist das aber eine persönliche Katastrophe. Warum sollte man das nicht darstellen ?

Meyer: Weil es schon überall dargestellt wurde. In allen Medien mit Bildern und Audioschnipseln, die ich hier zwar wiedererkannt habe, aber ohne Bruch.

Schwarz: Die Heilsamkeit des Tapes führt mir noch einmal vor Augen, wie ich an diesem Tag das medial Vermittelte aufgenommen habe.

Konrath: Liegt das nur daran, dass es rausgegriffen wurde und in einen anderen Kontext der Reflexion gesetzt wurde, aber auf ästhetischer und inhaltlicher Ebene reproduziert und neu abspult wurde ?

Bert: An die Gefühlsebene komm ich mit dem ganzen Geschwafel über Politik auch nicht ran.

Atlas: Es unterscheiden sich anscheinend die interpretatorischen Haltungen gegenüber dem Tape.

Müller: Subjektlooping vs. politische Auseinandersetzung.

Herrschaften: Dem eigenen Alltag vielleicht näher gekommen.

Müller: Es werden andere Historizitäten völlig ausgeblendet; das wäre jetzt möglicherweise ein Vorwurf an mangelnder Recherchearbeit; aber dieses sogenannte Politische, das wird permanent ausgeblendet. Ich seh da keine strukturellen Analysen, keinerlei geschichtlichen...

Frauschaft: Vielleicht geht es aber um das eigene Ereignis an einem eigenen Tag.

Müller: Es gibt kein eigenes Ereignis an einem eigenen Tag und es gibt auch keine Zäsur. Das ist eine Versubjektivierung. Da kommt man nicht sehr weit.

Frauschaft: Wieso, du bist kein Subjekt ?

Bert: Versubjektivierung ist die Voraussetzung, um Verantwortlichkeit an die eigene Person zu binden und als solche dann politisch zu handeln.

Ma(r)x: Ja, aber wie willst du als individualisiertes und vereinzeltes Subjekt denn politisch motiviert handeln ?

Opferlamm: Das Opferlamm kann nicht politisch handeln. Ich bin die grösst mögliche Vorstellung einer Versubjektivierung.

Volker: Nur durch die Versubjektivierung, durch die mediale Vereinzelung des Individuums kann es so etwas geben wie das Lamm Gottes, ein unschuldiges Opfer(lamm).

Bert: Wenn die Gruppe wegbricht, bricht auch der/die einzelne weg.

Müller: Dann bleibst du aber im intersubjektiven Raum, was nicht weiterbringt. Da muss schon eine politische Ebene, eine geschichtliche Polizität eingezogen werden.

West: Auf die Perspektive kam es an; wenn man eine Geschichte schreibt muss man eine Erzählsweise auswählen; das war hier die Ich-Erzählerin. Insgesamt war es ein Mittel, um diese Weltkatastrophe darzustellen.

Müller: Es war keine Weltkatastrophe; das ist ein ganz zentristischer, westlicher Blick.

Fredi: Wenn sich ein Gewaltakt gegen 3000 Menschen mehr medial auswirkt als gegen 20 Mio. und als Weltkatastrophe bezeichnet wird, sollte man vielleicht noch mal die Frage nach der Medienperspektive aufmachen... Womit wir wieder bei dem Video wären.

Almut Jürries


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Sebastian Oschatz

Black Boxes Design

Mit dem materialistischen Ansatz, der zugleich umschlägt in Gestaltung, "Artefakte immer" zum "Resultat einer Designentscheidung seitens der ProduzentInnen der benutzten Systeme" zu erklären, schlägt Sebastian Oschatz vor, subjektive und ideologische Prämissierungen von Kunst (z.B. freie Entfaltung) zu vernachlässigen und die Beweg-Gründe für ästhetische Produktion in den Nutzer-Systemen zu suchen. Diese Systeme sind technologisch bedingte Black Boxes, die sich zu einem negativen Turm abtürmen, deren letzter Grund also nicht erreichbar ist, weil die Ursache der Schaltungen nicht beobachtbar sind.

Dafür greift er modifizierend auf das informationstheoretische Vehikel-Modell von Shannon&Weaver zurück, nach dem die Botschaft zwar ankommt, aber nicht immer am Ziel, oder es kommt etwas von der Botschaft an, was vom Autor nicht intendiert war. Artefakte zeigen die Fehlerfahigkeit komplexer Systeme, aber nicht ihr Design. Artefakte sind Wahrnehmungsphänomene weil sie nur im Beobachterstatusfeld des Displays erscheinen, nie als solche erscheinen können.

Die taktischen Entscheidungen der Konstruierbarkeit von wie auch immer ästhetisierten Artefakten betreffen das Design der Systeme, die Programmierung, die Quelle (Source). Applikationen, bilden den Arbeitsbereich in dem Bedingungen von Möglichkeiten von instrumentalen Medien gebaut werden. Anstatt zu produzieren, wird zu Produktionsumgebungen übergegangen.

Wenn Star Wars-Held Luke die Source nutzen soll, dann ist er ein Ingenieur. Wird damit die Problematik vom ästhetischen Praktiker, dem Symbolverarbeiter, nur auf die ingenieurische Symbolverarbeitung verschoben wo alles - statt kreativem Chaos - in Arbeitsabläufe durchstrukturiert wird, algorithmisiert wird? Der produktive Fehler wird damit zum säkularisierten, entominösen Designproblem.

Matze Schmidt


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